Das Wesen von Märchen

 

Es gibt wunderbare Geschichten. Sie sind mit dem Verstand geschrieben, und in dieser Weise haben wir auch gelernt, sie zu lesen: nämlich, indem wir die jeweilige Handlung nachvollziehen, uns gewissermaßen vom Verfasser durch seine Gedankenwelt führen lassen.

 

Märchen sind anders. Sie sind zwar genauso mit dem Verstand geschrieben, doch zusätzlich haben sie etwas, das jenseits des Einflusses des Verfassers liegt, sogar jenseits der Moral und Weltanschauung. Dieses „Etwas“ ist grundsätzlich, zeitlos und ungemein wichtig.

 

Wer Märchen auf die übliche Art über die Handlung zu erfassen versucht, wie er es bei den Geschichten gelernt hat, wird dementsprechend auch nur Geschichten in ihnen sehen können. Die wahren Schätze von Märchen liegen hinter ihren Handlungen. Um sie zu erkennen, ist es nötig, den Blick unvoreingenommen auf den Text zu legen, ohne ihn durch die üblichen Wertvorstellungen und Weltbilder verzerren zu lassen. Erst wenn wir all das beiseitelegen, von dem wir denken, der Verfasser hätte es aussagen wollen, können wir erkennen, was wirklich in einem Märchen steckt – und das ist viel mehr, als der Verfasser überhaupt aussagen könnte.

(Märchen der Weisheit, Band 1, Einführung, S.10)

 

Zu diesem Schluss bin ich durch meine eigene Arbeit gekommen, aber auch aufgrund eingehender Beschäftigung mit vielen "alten Märchen". Einschränkend muss ich dabei zugeben, dass ich nicht alle Märchen gelesen und mich bei der Auswahl auch vornehmlich auf deutsche Märchen konzentriert habe. Und doch kann ich sagen, dass ich in allen berühmten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm einen solchen "Schatz jenseits von Moral und Weltanschauung" gefunden zu haben glaube, und das gilt auch für die berühmten Märchen von Hans Christian Andersen. Bei allen anderen, sowohl bei den "nicht bekannten" Märchen von den Grimms oder Andersen wie auch all denen anderer Autoren, die ich bisher gelesen habe, konnte ich ihn (noch) nicht entdecken.

 

Die Besonderheit von Märchen liegt sicherlich auch in der Magie, also der Beschreibung von Dingen zwischen Himmel und Erde, die sich die Schulweisheit nicht träumen lässt (frei nach William Shakespeare). Viele Märchen, ja vielleicht sogar die meisten, begnügen sich damit, dies in Form von wundersamen Gestalten kundzutun, die mit ihren übernatürlichen Kräften die Handlung beeinflussen.

 

Nun ist es aber so, dass der Großteil der Märchen aus den berühmten Sammlungen unbekannt ist. Bei den Grimm´'schen Märchen gilt dies für etwa 75 % (von etwa 207), bei den Märchen von Andersen liegt die Quote noch deutlich höher. Das ist eigentlich erstaunlich, da sie auch in den Gesammelten Werken enthalten sind und damit, zumindest theoretisch, die gleichen Chancen auf Berühmtheit hatten wie die bekannten Märchen. Wie es scheint, genügt es aber für Märchen nicht, über wundersame Figuren zu verfügen, um bekannt zu werden. Wenn das "gewisse Etwas" fehlt, berührt es uns nicht im Inneren, und wir vergessen es, sobald wir es gelesen haben.

 

Die berühmten Märchen jedoch, zumindest alle, die ich untersucht habe, verfügen über dieses "gewisse Etwas" - ob sie dabei auch wundersame Figuren besitzen oder nicht. Es ist das, was schon durch die Wortbedeutung ersichtlich wird;  denn "Märchen" ist die Verkleinerung des aus dem Mittelhochdeutschen stammenden Adjektivs "maer", welches man am besten mit "groß, bedeutend, oder berühmt" umschreiben kann und bis heute in dem Wort "mehr" wie auch allen seinen Formen erhalten geblieben ist (siehe Herkunftswörterbuch, Duden).

 

Dass heutzutage kaum noch jemand diese eigentliche Bedeutung der Märchen kennt, und sie vielmehr als unglaubhafte Geschichte oder sogar Lüge abgetan werden, erstaunt mich allerdings nicht – denn das "mehr" liegt sehr gut versteckt unter der Handlung. Die Märchen führen uns zielstrebig in eine augenscheinliche moralische Richtung, doch dann schlagen sie irgendwo heimlich einen Bogen, der sich in eine ganz andere Richtung bewegt oder die vordergründigen Aussage aushebelt, um dann ganz brav wieder zurück in die ursprüngliche Richtung zu gehen, als wäre nichts geschehen. Ich nenne es eine Schleife, weil auch dort der Faden rückwärts läuft, sich verschlingt und letztlich doch wieder dort weitermacht, wo die Schleife begonnen hat.

 

Wer ein solches Märchen oberflächlich liest, wird diese "Schleife" nicht beachten und gewisse Ungereimtheiten in der Handlung einfach überlesen. Und selbst die aufmerksamen Leser, die auf diese Ungereimtheiten stoßen, werden vermutlich nach einem Moment des Stutzens zu dem Schluss kommen, dass es sich hier "nur" um Märchen handelt, die man nicht so genau nehmen sollte. Genau dies aber ist ein gewaltiger Trugschluss, denn bei Märchen ist nichts, wirklich nichts zufällig – zumindest nicht bei solchen, die über das bereits angesprochene "mehr" verfügen.

 

Um was es sich bei diesen Schleifen im Einzelfall handelt, ist schwer zu sagen, da sie sehr verschieden sind. Auch was die Lage oder die Anzahl der Schleifen in einem Märchen anbelangt, kann man keine pauschale Angabe machen. Ihre Gemeinsamkeit liegt jedoch in der Infragestellung des allgemeinen Weltbildes. Damit meine ich all das, was wir für gewöhnlich als richtig oder falsch, als gut oder böse, als sittsam oder unsittlich, als normal oder unnormal, als Realität oder Schein ansehen. Stattdessen blickt das durch, was "wahr" ist.

 

Einige Beispiele von solchen Schleifen habe ich zum besseren Verständnis an einigen ausgewählten Märchen der Grimm'schen Sammlung einmal erläutert und sie hier auf der Webseite eingefügt. Meine Gedanken zu den Märchen weichen dabei sicherlich stark von denen der gängigen Interpretationen ab. Diese betrachten meist vorrangig die Symbolik, die auch in Märchen steckt, und die man auf die unterschiedlichsten Weisen auslegen kann, denn auch die vielfältige Möglichkeit zur Interpretation ist ein typisches Merkmal von Märchen. Unterschiede zwischen den Interpretationen sind daher auch verständlich, da sie immer auf dem Weltbild des jeweiligen Verfassers fußen. Wenn ich mir hingegen einen Text ansehe, bin ich bemüht, jede Form von Interpretation außen vor zu lassen und genau das zu entschlüsseln, was der Text aussagt. Ich weiß aus meiner eigenen Arbeit, dass Märchen eine Art "Eigenleben" haben und ihren eigenen Gesetzen folgen, anstatt sich nach den Wünschen des Verfassers zu richten. Geht ein Verfasser mit der Kraft seines Verstandes und seiner Feder dagegen vor, verliert das Märchen sein „maer" beziehungsweise "mehr". Meines Erachtens wird aus ihm damit eine Geschichte, was nicht als Wertung gedacht ist, sondern als einfache Unterscheidung – es gibt wirklich wunderschöne, ja geradezu herrliche Geschichten, auch phantastische Geschichten, nur sind das keine Märchen.

 

Für Märchen-Adaptionen, sei es durch Neufassungen oder Verfilmungen, gilt Ähnliches. Ich gehe einmal davon aus, dass sie geschrieben oder gedreht wurden, um die "alten" Märchen moderner, klarer, vielleicht auch gesellschaftsfähiger zu machen. Und das ist, wie man immer wieder beobachten kann, den Verfassern und Filmemachern wirklich gelungen. Die Bilder dort sind bezaubernd, und die Texte haben zumeist einen modernen Schliff bekommen. Gleichzeitig wurden gewisse Grausamkeiten aus alten Tagen entfernt. Anders ausgedrückt, sie wurden an das vorherrschende Weltbild angepasst. Dass dadurch die Schleifen gewissermaßen "plattgebügelt" wurden, ist sicherlich nicht beabsichtigt gewesen, aber es macht sie zu genau dem, was sie eigentlich nicht sind: nette Kindergeschichten.

 

Deswegen rate ich jedem, der die Schätze der klassischen Märchen finden will, die Texte in ihrer Originalversion zu lesen. Sie sind mittlerweile im Netz veröffentlicht und unter wikisource zugänglich.