Lust auf eine Leseprobe?
Hier finden Sie immer mal wieder ein anderes meiner Märchen.
Maerchen der Weisheit
Dies ist das Märchen von der kleinen Laterne mit dem schönen Namen Shine. So schön wie ihr Name war sie selbst auch. Sie hatte einen herrlichen Schirm und sogar
zwei Füße anstatt nur einen wie üblich, durch die sie in der Lage war zu gehen. Sicher, ihr Laternenmast besaß nicht die stattliche Höhe mancher ihrer Artgenossen, aber das tat ihrer Schönheit
keinen Abbruch, im Gegenteil, gerade dadurch war sie besonders schön, so zierlich und anmutig.
Davon wusste sie jedoch nichts. Sie wollte nur leuchten, alles andere war ihr egal. Und das tat sie auch mit ihrer ganzen Kraft und gab ihre gesamte Leuchtkraft
in ihren Schirm.
So leuchtete sie durch den Tag, doch sie bemerkte ihr ei-genes Licht kaum, dazu war die Sonne am Himmel ein-fach zu hell. Das machte sie sehr traurig, denn sie
fühlte sich vollkommen unwichtig und unnütz, denn was sollte sie schon gegen die Sonne ausrichten?
Doch dann ging die Sonne zum Glück unter, und es wur-de immer dunkler. Da war Shine froh und meinte, nun könne sie endlich etwas bewirken. Als sie bald darauf
zu einer breiten Straße kam, sah sie große Leuchten, die in einer langen Reihe dicht nebeneinander standen und stolz den dunklen Himmel so stark erleuchteten, dass man beinahe meinen konnte, es
sei wieder Tag. Die kleine Laterne war vollkommen überwältigt. Was für eine wundervolle Aufgabe, was für eine großartige Leistung, dachte sie und hatte sofort den Wunsch, zu den Leuchten dazu zu
gehören. Also stellte sie sich zwischen zwei von ihnen und versuchte noch ein klein wenig heller zu scheinen als zuvor.
Leider konnte sie auch hier nicht erkennen, wie sie leuchtete. Um ehrlich zu sein, hätte sie ihr Licht auch ganz abstellen können, denn die großen Leuchten
erfüllten ihre Aufgabe hervorragend, ob die kleine Laterne nun dabei war oder nicht.
Dadurch wurde die kleine Laterne so traurig, dass sie ihr Licht ganz schwach stellte und sich davonschlich, als hätte man sie verprügelt.
Sie ging lange, so lange, bis sie die Stadt mit ihren gro-ßen Leuchten auf den Hauptstraßen hinter sich gelassen hatte und in einem kleinen Dorf angekommen war.
Hier gab es zwar auch Leuchten, aber nicht am Ortsrand, dort wo ein schöner Baum stand und neben ihm eine hölzerne Bank. Es war ein lieblicher Platz, und die kleine Laterne fühlte sich sofort
wohl.
Also begann sie auch hier wieder alles zu geben, was sie an Leuchtkraft besaß. Doch als sie sich umblickte, sah sie nur Dunkelheit um sich herum. Wie sie sich
auch drehte und wendete, es blieb vollkommen finster. Das hatte sie nicht erwartet.
Sie wollte zwar leuchten, aber sie wollte doch ihr Leben nicht in Finsternis verbringen. Das war einfach nicht ge-recht, und abgesehen davon fürchtete sie sich
auch, wenn sie nicht sehen konnte, was um sie herum geschah.
Die kleine Laterne wurde darüber nicht nur erneut trau-rig, sondern auch wütend. Am liebsten hätte sie gleich ihr Licht gelöscht und wäre zu den großen Leuchten
in der Stadt zurückgekehrt. Allein ihr Stolz sowie ihr innerstes Bestreben zu scheinen hielten sie davon ab. Daher blieb sie tapfer in der Dunkelheit stehen, bis der Tag anbrach. Von dem
Augenblick aber, da die Sonne aufging, fühlte sie sich erneut nutzlos, weil sie ihr eigenes Licht wieder einmal kaum noch erkennen konnte.
So ging es Tag für Tag und Nacht für Nacht. Entweder fühlte sie sich nutzlos neben der Sonne, oder sie fürchtete sich in der Dunkelheit. Einzig in der
Dämmerung, sei es am Morgen oder am Abend, war es anders. Denn dann lieferte die Sonne nur einen Teil ihrer Helligkeit, gerade so viel, dass Shine ihre eigene Leuchtkraft bemerkte, ohne
gleichzeitig in der Dunkelheit zu stehen. Nur in dieser kurzen Zeitspanne fühlte sie sich wertvoll.
Arme Shine. Arme tapfere, kleine Shine.
Sie wusste gar nicht, wie wertvoll sie in Wahrheit war: Wie viel Licht sie in die Welt brachte, wie weit ihr Licht in der Dunkelheit
leuchtete.
Da waren Spaziergänger, denen sie den Weg nach Hause leuchtete, oder Liebespaare, die sich auf der Bank neben ihr den ersten Kuss gaben und sich ewige Liebe
schwo-ren. Da waren aber auch viele Tiere, die sich an ihrem Licht aufwärmten.
Von all dem bekam sie nur nichts mit, weil sie selbst in der Nacht der hellste Punkt weit und breit war. So ist das nun mal: Wer wie sie das Licht selber ist,
für den ist alles andere dunkel. Und weil das so ist, werden auch nur die Tapfersten und Mutigsten auserkoren, solch eine Aufgabe zu erledigen und ganz allein in der Dunkelheit wache zu
halten.
Dies war auch der Grund, warum sie zwei Füße bekom-men hatte: Damit sie selbst entscheiden konnte, wo sie leuchten wollte; und damit sie diesen Ort auch
jederzeit wieder verlassen konnte, sollte es ihr dort in der Nacht zu dunkel sein. Aus dem gleichen Grund hatte sie jedoch auch ihren Mut bekommen: damit sie nicht zu schnell
aufgab.
Und Shine gab wirklich nicht auf. Sie leuchtet noch immer. Die meisten von uns kennen sie, die kleine Laterne am Ortsrand bei dem schönen Baum und der hölzernen
Bank.
Auch wenn wir es ihr noch nie gesagt haben, so sind wir doch alle sehr froh, dass sie noch nicht aufgegeben hat und weiterhin für uns scheint – Nacht für
Nacht.
Anmerkungen - Die Laterne
Ich habe einmal gelesen, dass in unserer Zeit, dem Be-ginn des Wassermannzeitalters, ein neuer Versuch gestartet wird, die Welt zu erhellen. Aber diesmal nicht wie
vor 2000 Jahren, als ein uns allen bekanntes großes, strahlendes Licht auf die Welt geschickt wurde, sondern indem viele kleine Lichter auf der Welt verteilt werden. Diese Lichter sollen wie ein
Netz aus Kerzen wirken, und wenn sie auch als einzelne nicht besonders viel auszurichten scheinen, so kann doch insgesamt die Welt erleuchtet und damit das Ziel erreicht werden.
Unter dem Licht versteht man, wenn ich mich recht erin-nere, Wahrheit und Integrität. Wo sie sind, haben Lügen, Intrigen und Neid keinen Platz. Wobei es aber, wenn
die Welt nun erleuchtet wird, nicht zu dem oft behaupteten Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit kommen soll. Vielmehr ist es wohl so, dass überall, wo ein solches Licht aufflammt, ein
kleiner Bereich hell wird, also die Dunkelheit einfach verschwindet; gerade so, wie wir alle es jeden Abend im realen Leben erfahren, wenn wir in einem Raum den Lichtschalter betätigen – es wird
einfach nur hell.
Shine ist eine von denen mit einem solchen Licht, und sie will es auch der Welt geben, daher der Name, der (sprich: schain) nichts anderes als scheinen bedeutet.
Doch leider sieht sie keinen Erfolg in ihrem Tun, selbst wenn sie alle Kraft in ihr Licht gibt. Tagsüber kann sie nicht im Geringsten gegen die Sonne ankommen, in der Nacht steht sie sich selbst
im Weg. Das ist ein großes Problem für alle kleinen und großen Lichter dieser Welt: Solange man keine andere Lichtquelle neben sich hat, die in der Helligkeit der eigenen in etwa gleicht, und die
zusätzlich im passenden Abstand entfernt steht, wird man nie erkennen können, wie hell man strahlt. Obwohl es gar nicht nötig ist, seine Leuchtkraft zu überprüfen, da selbst eine Kerze jeden
einzelnen Gegenstand in einem vormals dunklen Raum beleuchten kann. Sicher wird man nur dunkelgraue Schemen ausmachen können, aber heller als die allumfassende Schwärze, die vorher herrschte, ist
es dann allemal. Trotzdem kann ich jede Kerze, Lampe oder Laterne sehr gut verstehen, die eine Bestätigung ihres Erfolges sucht – schließlich will man ja auch auf seine Arbeit stolz sein
können.
Möglicherweise wäre die fehlende Bestätigung besser zu ertragen, wenn da nicht auch die Furcht vor der Dunkel-heit wäre. Das mag merkwürdig klingen, immerhin trägt
eine Laterne das Licht bekanntermaßen in sich. Leider kann jedoch nur ein Außenstehender dessen Wirkung er-kennen – der Laterne selbst ist es unmöglich. Je heller sie strahlt, umso dunkler
empfindet sie ihre Umgebung, besonders in der Nacht. Das kann man jederzeit ausprobieren, indem man eine Taschenlampe nimmt und sich damit direkt in die Augen leuchtet. Wie viele schon am eigenen
Leib erfahren haben, „verblitzt“ man sich dabei die Augen, und anstatt weit sehen zu können, ist man nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu erkennen, das außerhalb des innersten Lichtkreises
existiert. Im Gegenteil, die Umgebung wird für den Lichtträger stockfinster. Das ist es, was Shine so sehr belastet. Es ist daher mehr als nachvollziehbar, wenn sie die Dunkelheit fürchtet,
obwohl diese in Wahrheit dank ihres Lichts gar nicht mehr so dunkel ist wie zuvor; und ihr zudem die Einsamkeit sehr zu schaffen macht.
Die Möglichkeit, sich mit ihren beiden Beine überall niederlassen zu können, macht es ihr dabei auch nicht leichter, sondern lässt sie noch zusätzlich zweifeln.
Natürlich fragt sie sich, ob es nicht besser sei, irgendwohin zu gehen, wo es für sie viel einfacher und angenehmer ist. Sie muss ja nicht unbedingt zu der Prachtstraße mit den vielen großen
Leuchten zurückkehren, wenn sie dort meint, nichts bewirken zu können. Es gibt durchaus noch andere Straßen mit wenigen Laternen oder Leuchten, um sich niederzulassen, denn auch dort könnte sie
das Gefühl ha-ben, etwas zu bewirken. Vielleicht würde sie das sogar tun, wenn sie am Ortsrand neben der Bank der Verliebten (abgesehen von der Dunkelheit) nicht das Gefühl hätte, am richtigen
Platz zu sein.
Und so scheint es, als wäre dieser neue Plan zur Welter-leuchtung ein ganz mieser Plan, der nur Einsamkeit, Un-zufriedenheit und Furcht erzeugt. Viel besser ist da
doch das Konzept der großen Leuchten auf den Prachtstraßen, die sich mit Sicherheit sauwohl fühlen in ihrer starken Gemeinschaft, und die weder Zweifel noch Furcht vor der Dunkelheit haben
müssen, weil es bei ihnen immer taghell ist.
Aber wie gesagt, dies scheint nur so zu sein. Das Kon-zept der großen Leuchten, das seit Jahrtausenden bekannt ist, hat sich nämlich nicht bewährt, weil die großen
Leuchten viel zu dicht beieinanderstehen. Dadurch schaffen sie zwar helle, ja sogar überhelle Bereiche, aber den größten Teil ihres Lichts verschwenden sie, insbesondere, indem sie sich
gegenseitig beleuchten. Das mag für die Leuchten angenehm sein, aber es führt dazu, dass der überwiegende Teil der Welt im Dunkeln bleibt. An die-sem Problem würde sich auch nichts ändern, hätten
sie wie die kleine Laterne zwei Beine. Im Gegenteil, damit würden sie nur noch enger zusammenrücken, um sich gegenseitig bestmöglich anzustrahlen, was aber nicht unbedingt etwas mit Egoismus zu
tun hat, sondern vielmehr in dem alten Konzept selbst begründet ist. Daher ist es kein Wunder, wenn das alte Konzept von einem neuen abgelöst wird, das hier in diesem kleinen Märchen auf einfache
und doch, wie ich finde, sehr anschauliche Weise dargestellt wird. Gleichzeitig offenbart es interessante Informationen über das Wesen des Neuen Zeitalters, wie die freie Wahl oder das tiefe
Bedürfnis, den Platz zu finden, an dem man sein Licht am besten einbringen kann, und zwar zum Wohle der gesamten Welt. Das Streben nach Anerkennung durch andere oder der Wunsch nach einem
angenehmen Leben im Verbund mit Gleichgesinnten wird dann dagegen der Vergangenheit angehören.
Bis dahin ist allerdings noch ein weiter Weg. Deshalb ist das Märchen auch so traurig, weil es die Pioniere dieses Konzepts ausgesprochen schwer haben. Aber, und
das ist die gute Nachricht, die Mühe wird sich lohnen, und die Welt wird ein heller Ort sein, an dem alle Beteiligten sehr zufrieden sind.
Das gilt selbstverständlich auch für Shine. Keine Sorge, sie wird nicht immer alleine sein. Andere Laternen wer-den sich in gar nicht allzu ferner Zukunft zu ihr
gesellen. Aber nicht so, dass sie ganz dicht an Shine heranrücken werden, sondern sich im gebührenden Abstand niederlassen. Denn auch sie werden darauf bedacht sein, dass jeder sein Licht optimal
einsetzen kann. Und dann wird es dort bei der Bank der Verliebten wunderschön sein, tags wie nachts. Da bin ich mir ganz sicher.
Und so ist dieses Märchen gleichzeitig auch eine ganz persönliche Botschaft an alle Laternen wie Shine dieser Welt:
Danke für euer Durchhaltevermögen.
Danke für den tollen Job, den ihr leistet.
Danke, dass ihr da seid.
Dies ist ein Auszug aus:
Märchen der Weisheit
Der Zukunft entgegen
Band 1
von Diana Weisheit
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