Lust auf eine Leseprobe?

Hier finden Sie immer mal wieder ein anderes meiner Märchen.

 

Die Puppen

Dies ist das Märchen von der kleinen Dolly, die zum ersten Mal in ihrem Zimmer mit ihren neuen Puppen spielte.

 

Es dauerte jedoch nicht lange, da hörte Dollys Mutter ein lautes Schluchzen aus dem Kinderzimmer. Und als sie nachschaute, sah sie ihre Tochter weinend neben vielen Kleidern auf dem Boden sitzen.

 

„Mein liebes Kind, was ist denn geschehen, das dich so unglücklich gemacht hat?“, fragte die Mutter besorgt.

 

„Ach Mama, die Puppen mögen meine Kleider nicht“, antwortete Dolly unter Tränen.

 

„Wie kommst du denn darauf, mein Schatz?“

 

„Immer, wenn ich sie frage, ob ihnen das Kleid gefällt, das ich anhabe, schauen sie mich so böse an. Deswegen habe ich ein Kleid nach dem anderen angezogen, bis auf das letzte, das ich besitze. Aber sie gefallen ihnen einfach alle nicht.“

 

„Bist du dir da ganz sicher? Vielleicht können die Puppen gar kein anderes Gesicht machen.“

 

„Nein, sie mögen meine Kleider wirklich nicht. Das weiß ich, weil ich jede von ihnen einzeln hochgenommen habe, damit sie sich die Kleider noch einmal genau ansehen. Und da haben sie nicht nur böse geschaut, sondern auch noch ein ganz lautes, schreckliches ‚Bäh‘ gerufen. Es war ganz furchtbar anzuhören.“

 

Die Mutter verstand den Kummer ihrer kleinen Tochter durchaus, und sie fühlte auch mit ihr. Trotzdem konnte sie sich ein Schmunzeln nur mühsam verkneifen, da sie wusste, dass diese Art von Puppen stets ein Brummeln von sich gab, wenn man sie nach vorne kippte. Doch wie sollte sie das ihrer Tochter erklären, die glaubte, die Puppen wären denkende Wesen?

 

Daher meinte sie: „Das mag ich gar nicht glauben, Dolly. Deine Kleider sind wunderschön, die müssen ihnen gefallen haben. Weißt du was, wir fragen die Puppen einfach noch einmal zusammen. Also passt auf, ihr Puppen: Wie findet ihr Dollys Kleider?“

 

Nun schauten sie beide, Mutter wie Tochter, zu den Puppen, die mit den gleichen unbewegten Puppengesichtern zurückblickten, die sie immer zeigten.

 

„Siehst du, wie sie lächeln, Dolly? Deine Kleider gefallen ihnen “, meinte da die Mutter und lächelte nun selber.

 

„Meinst du wirklich?“ Dolly war noch nicht so recht überzeugt.

 

„Natürlich, das sind Puppen, die lächeln nicht so deutlich wie wir. Man muss schon genau hinsehen.“

 

„Ach ja? Aber was ist dann mit dem schrecklichen Bäh, das sie gemacht haben?“

 

„Das weiß ich nicht“, gab die Mutter zu. „Ich müsste es einmal selber hören. Am besten, du wiederholst das, was du vorhin getan hast.“

 

„Na gut.“ Dolly hob die Puppen hoch und kippte sie nach vorne, bis sie brummten.

 

„Ich weiß gar nicht, was du hast, Dolly, sie rufen doch in Wirklichkeit ‚wunderbar‘ und nicht ‚Bäh‘. Sie können nur nicht so gut reden, deswegen lassen sie einfach den ersten Teil des Wortes weg, und du hörst nur noch ‚bar‘.“

 

Dolly schaute ihre Mutter nun sehr erstaunt an und dachte angestrengt nach, doch dann fing sie laut an zu lachen. „Ja, Mama, ich verstehe. So will ich es von jetzt an auch sehen.“

 

Und fortan spielte sie ganz glücklich mit ihren Puppen und hatte viel Freude mit ihnen.

 

***

 

Nicht lange danach kam Dolly in die Schule, wo sie sich sehr wohl fühlte, denn sie wurde von allen Kindern gemocht.

 

Zumindest sah sie es so, dass jeder sie mögen würde. In Wahrheit stimmte dies keineswegs. Es gab eine Anzahl von Kindern, die Dolly gar nicht leiden konnten. Einmal, weil diese Kinder neidisch auf Dollys ständige gute Laune waren. Und dann, weil sie ohnehin niemanden leiden konnten – auch nicht sich selbst.

 

Nur sah Dolly das nicht. Jeden noch so bösen Blick deutete sie als freundliche Zustimmung, die das andere Kind eben nicht anders zeigen konnte. Und selbst bei beleidigenden Äußerungen dachte sie sich, das Kind hätte sich einfach nur ungeschickt ausgedrückt. Deswegen lächelte sie auch jedes dieser Kinder stets freundlich an, egal, wie ablehnend sie auch behandelt worden war, und betrachtete es als guten Freund.

 

Anfangs fühlten sich die Kinder verspottet, wenn Dolly auf jede Beleidigung, sei sie auch noch so gemein, nur mit einem freundlichen Lächeln antwortete. Mit der Zeit erkannten sie jedoch, dass Dolly einfach nur keines der bösen Worte ernst genommen hatte. Darüber freuten sie sich dann sehr, denn eigentlich hatten sie niemals gemein sein wollen, sondern stets nur das weitergegeben, was sie selbst erfahren hatten.

 

Und von da an erkannten sie in Dolly eine wunderbare Freundin – eine Freundin, die sie zu mögen vermochte, selbst wenn niemand anderes es tat. 

 

So kam es, dass alle dann doch mit ihr befreundet waren. Und nicht nur das. Immer, wenn sich ein Kind bei Dolly über ein anderes beschwerte, erklärte sie diesem, wie sie die Sache sah; nämlich, dass das andere Kind sich wohl nur ungeschickt ausgedrückt oder einfach einen schlechten Tag hatte, oder etwas falsch verstanden haben musste, oder es sich in Wahrheit um ein Missverständnis handelte. Mit der Zeit ließen sich alle davon überzeugen. Solange, bis sich alle Kinder aus Dollys Klasse auch untereinander gut verstanden – jedes mit jedem.

 

***

 

Irgendwann nahm Dolly ihre Puppen mit in die Schule, um sie allen vorzustellen. Als sie ihrer Klasse zeigte, wie sich die Puppen freuten, verstanden die Kinder es sofort. Nur die Lehrerin schüttelte den Kopf und meinte: „Aber Dolly, die Puppen lächeln nicht und geben auch keine Zustimmung, es sind doch nur dumme Puppen.“

 

Doch da schauten sich die Kinder verschmitzt an und zwinkerten sich zu. Mit vielen Erwachsenen musste man nachsichtig sein. Sie wussten es einfach nicht besser.

 

Aber vielleicht würden sie ja eines Tages dazulernen.

 

Anmerkungen - Die Puppen

 

Dieses Märchen gehört zu meinen späteren Werken und ist eines von wenigen, für die ich zum Schreiben nicht viel Zeit benötigte. Wenn meine Aufzeichnungen korrekt sind, habe ich sogar nur einen einzigen Tag gebraucht, um die Rohfassung zu erstellen. Es ist ein kleines Märchen dabei herausgekommen, von einem Mädchen, das beschließt, eine andere Sichtweise über die Dinge anzunehmen. Dass sich diese Dinge daraufhin auch wirklich in gewünschter Weise ändern, mag man als unrealistisch ansehen, ist es aber nicht. Ich bin sogar davon überzeugt, dass hierin der Schlüssel für den zukünftigen allgemeinen gesellschaftlichen Umgang im Neuen Zeitalter liegt, und zwar nicht nur für das Miteinander im privaten Bereich.

 

Menschen wie Dolly und ihre Freunde ignorieren Miss-stände nicht oder reden sich die Dinge schön, auch wenn es für den Außenstehenden so aussehen mag. Vielmehr haben sie einfach einen anderen Blick auf diese Dinge. Sie tun auch nichts für die jeweilige Veränderung, viel-mehr sind sie die Veränderung selbst – alles andere fügt sich von allein. Es ist ein Mechanismus, der an ein Prinzip beim Turnen erinnert, nach dem der Körper stets dem Kopf folgt: für eine Schraube dreht man während eines Sprungs den Kopf nach rechts oder links, für einen Salto vorwärts legt man ihn auf die Brust, und der Körper erledigt den Rest.

 

Leider kann ich Ihnen über diesen Mechanismus eines neuen Miteinanders nichts Näheres sagen als das, was in dem Märchen bereits dargestellt wurde. Denn nicht jeder, der dieses Prinzip des Turnens kennt, ist auch ein Turner; und so bin ich zwar heute grundsätzlich vielleicht noch in der Lage, einen Salto zu schlagen, aber das, was Dolly da vollbringt, liegt leider völlig außerhalb meiner persönlichen Reichweite. Dafür ist wohl ein neues Bewusstsein nötig, wie es nach meinem Kenntnisstand die neuen Kinder, von denen man immer häufiger hört, von Geburt an besitzen sollen. Diese Kinder werden auch „Kristallkinder“ genannt und kommen, wie es heißt, seit einigen Jahren in langsam steigender Zahl auf die Welt. Anders als ihre impulsiven und stürmischen Vorreiter, die „Indigokinder“, sollen die Kristallkinder sanftmütiger Natur sein, in sich ruhen und durch ihr neues Bewusstsein neue und dazu friedliche Lösungen finden, mit denen sie nicht nur ihre persönlichen Lebensumstände, sondern auch ihr Umfeld beeinflussen und gegebenenfalls verändern. Sie werden mit einiger Sicherheit Großes für die Welt leisten, sei es zwischenmenschlich, ökologisch, ökonomisch, politisch oder in einem anderen Bereich, natürlich vorausgesetzt, dass die Theorie über die Kristallkinder zutrifft.

 

Nun muss man sicher nicht mit diesem neuen Bewusst-sein geboren werden, um eine andere Sichtweise annehmen zu können. Besonders einfach ist es wohl, wenn man jemanden wie Dolly an seiner Seite hat, der als Vorreiter zur Verfügung steht. Das zeigen die Kinder aus Dollys Schulklasse eindrücklich, denn sie alle haben ohne größere Schwierigkeiten, sowie aus freien Stücken, ihre alte Sichtweise aufgegeben und die von Dolly angenommen. Und wie man sehen kann, sind sie damit sehr zufrieden.

 

Weitaus schwieriger ist es dagegen ohne einen Vorreiter, doch auch das haben laut historischen Zeugnissen bereits einige vollbracht. Gandhi ist, wie ich glaube, einer von ihnen, weil er auf friedliche Weise große Veränderungen in seinem Land erreicht und mit ungewöhnlichen Ansichten einen nachhaltigen Eindruck in der ganzen Welt hinterlassen hat. Ihn finde ich gerade deswegen hier erwähnenswert, weil von ihm das denkwürdige Zitat stammt: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“

 

Für gewöhnlich wird dieses Zitat als Appell angesehen, man solle als gutes Beispiel vorangehen, wenn man eine Veränderung bewirken wolle. Doch ergibt dies keinen Sinn, denn dann müsste es heißen, man möge die Veränderung tun und nicht selbst sein.

 

Daher werde ich den Verdacht nicht los, es handelt sich dabei in Wahrheit um die Aussage, dass Veränderungen durch eine neue Sichtweise zustande kommen – eben genau eine solche, wie sie Dolly dank der Anregung durch ihre Mutter erhalten hat.

 

 

Dies ist ein Auszug aus:

 

Märchen der Weisheit

Der Zukunft entgegen

Band 3

 

von Diana Weisheit

 

Dieser Auszug ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken weitergegeben werden. Alle Rechte verbleiben bei der Autorin.